MANAGEMENT 4.0 & STRATEGY:
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Mirow
in-sight Nummer 4.4
Die Macht der Märkte muss mehr Beachtung finden
Machtausübung in einem Unternehmen verbindet man gemeinhin mit der Macht der Exekutive, sprich der Leitungsorgane (Aufsichtsrat, Vorstand, Bereichsleitungen etc.). Wenig Beachtung in den Überlegungen zu Führungsstrukturen findet hingegen die zunehmende Macht der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, auf die Führung von Unternehmen. Die Macht der Finanzmärkte, etwas weiter gefasst die Macht der öffentlichen Meinung, ist als zumindest gleich wichtig neben die evidente Macht von Kunden-, Lieferanten- und Personalmärkten zu stellen. Einer Unternehmensleitung muss es gelingen, diese externen Mächte in die Entscheidungsfindung und die daraus folgende Umsetzung einzubinden. Wie aber kann hier Willkommenes von Unwillkommenem, Aufbauendes von Störendem bis hin zu Zerstörendem unterschieden werden? Welchen Einfluss hat das auf die Entwicklung der Struktur und Führung von breit aufgestellten Unternehmen?
Wir haben gesehen, dass sich die Waage eher von der zentralen Führung weg und der Dezentralisierung und Autonomie (Freiheit) zuneigt. Zwei gegenläufige Bewegungen bestimmen diesen Trend.
- Einerseits können durch die Möglichkeiten von Management 4.0 immer mehr Informationen in kürzerer Zeit zielgerichtet verarbeitet werden. Das könnte zu einer Wiederbelebung zentralistischer Tendenzen führen.
- Andererseits erfordern der immer schnellere Wandel der Technologien, der Märkte und Kundenanforderungen sowie die Globalisierung ein immer schnelleres – und und vor allem zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit auch „richtiges“ – Agieren in einem hochkomplexen und von starker Dynamik geprägten Umfeld.
Diese Notwendigkeit wiegt die denkbaren Vorteile einer durch das Potenzial von Management 4.0 ermöglichten Rezentralisierung auf.
Schnelles und „richtiges“ Handeln erfordert Handlungsfreiheit auf allen Stufen der Organisation
Wie erwähnt, ist jede große Organisation, die ein Ziel verfolgt, als hierarchisches System von Regelkreisen aufgebaut. Die traditionelle Organisationslehre besagt, dass in einem hierarchisch strukturierten Unternehmen alle Macht von der Exekutive (Geschäftsleitung) ausgeht und in Form von Zielvereinbarungen oder gar Handlungsanweisungen im Rahmen definierter Regeln an die nachgeordneten Einheiten weitergegeben wird. Dabei definieren wir „Macht“ sehr allgemein als die Fähigkeit von Individuen oder Gruppen, auf andere Personen so einzuwirken, dass ihr Handeln dem Erreichen der eigenen Ziele dient. Dieses einfache Schema wird durch das Erfordernis von Handlungsfreiheit infrage gestellt. Anweisungen der Unternehmensleitung werden auf nachgeordneten Ebenen erneut diskutiert und im besten Fall als Anregung aufgefasst, im schlechteren Fall ignoriert oder gar abgewehrt. Und dennoch zeigt die Erfahrung: Unternehmen, die solchen „Ungehorsam“ in Kauf nehmen und ihrer Organisation über alle Ebenen größere Handlungsfreiheit lassen, sind mittel- und langfristig meist erfolgreicher als streng hierarchisch und von der Leitung „an der kurzen Leine“ geführte Unternehmen.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, das Phänomen der Macht nur an den internen Strukturen eines Unternehmens festzumachen.
Michael Mirow
Wie bereits diskutiert, liegt der Schlüssel zu diesem Paradoxon im erfolgreichen Umgang mit Komplexität. Ein dezentral aufgestelltes Unternehmen, das den nachgeordneten Einheiten ein hohes Ausmaß an Freiheit und Autonomie gewährt, hat bessere Chancen, sich in einem hochkomplexen und sich schnell wandelnden Umfeld zu behaupten.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, das Phänomen der Macht nur an den internen Strukturen eines Unternehmens festzumachen. Die Macht des Umfeldes, vor allem der Finanzmärkte, der Kunden und auch der Politik können Unternehmen in viel größerem Maße beeinflussen. Genau hier setzen die Forderungen nach Zerschlagung komplexer Konglomerate an.
- Trotz – oder vielleicht sogar gerade aufgrund – der Möglichkeiten der Digitalisierung ist die Leitung eines breit aufgestellten Unternehmens zunehmend damit überfordert, zielgerichtet und vor allem schnell auf die Herausforderungen des Umfelds zu reagieren.
- Eher amorphe Großunternehmen ermöglichen es gerade den Finanzmärkten nicht, ihre oft explizit formulierten Erwartungen an das Unternehmen in der Umsetzung zu begleiten und auch zu kontrollieren.
Eine bewusste und kontrollierte Einbindung der Macht des externen Umfeldes zur Führung des Unternehmens unterstützt die Exekutive
Im Jahr 1998 war die Siemens AG in einer kritischen Lage. Der Aktienkurs hatte sich von den führenden Indizes und dem Wettbewerb deutlich abgekoppelt – nach unten. Die Märkte hatten das Vertrauen in die Versprechungen der Führung hinsichtlich einer Verbesserung der Ergebnisse verloren. Wichtige Anlegergruppen, institutionelle Investoren und Analysten forderten, das Unternehmen zu zerschlagen, weil das Ganze deutlich weniger wert sei als die Summe seiner Teile. Weite Teile der öffentlichen Meinung schlossen sich dieser Forderung an.
Die Unternehmensleitung widerstand diesem Druck und veröffentlichte ein 10-Punkte-Programm zur Verbesserung der Situation. Ein entscheidender Punkt in diesem Programm war die Einstellung der Restrukturierungskosten in Milliardenhöhe in die Bilanz. Damit nahm sich die Führung selbst in die Pflicht, die geplanten Restrukturierungsmaßnahmen auch tatsächlich durchzuführen, da sonst eine Reaktivierung dieser Kosten hätte begründet werden müssen – ein Offenbarungseid, den das Management nicht überstanden hätte. Parallel dazu wurde eine vierteljährliche und jährliche Berichterstattung über den Stand der Umsetzung der 10 Programmpunkte heruntergebrochen bis auf die Ebene der Bereiche, eingeführt . Diese Berichte und Pressekonferenzen standen fortan unter dem Motto: „Wir tun, was wir gesagt haben, Punkt für Punkt“. Die vierteljährliche Berichterstattung über die Fortschritte der Restrukturierung wurde zudem direkt den Vorständen der 14 Bereiche übertragen. Sie hatten jeweils die Ergebnisse ihrer Verantwortungsbereiche in eigenen Pressekonferenzen zu vertreten. Ein Nebeneffekt: Siemens wurde zu einem der transparentesten Unternehmen seiner Branche.
Aus der Not wurde eine Tugend: die Macht der Märkte wurde bewusst eingesetzt, um das Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen.
Michael Mirow
Diese Maßnahmen kombinierten eine verstärkte Autonomie der Bereiche mit einer Einbeziehung der Macht der externen Märkte in die Umgestaltung dieser Einheiten. Mit Hilfe der externen Berichterstattung wurden öffentlicher Erwartungsdruck und Kontrolle als positive Impulse genutzt. Aus der Not wurde eine Tugend: die Macht der Märkte wurde bewusst eingesetzt, um das Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen. Ein Indiz für den Erfolg dieser Strategie möge sein, dass sich der Börsenwert von Siemens im Zeitraum zwischen 1998 und 2008 mehr als verdreifachte. Damit wurden alle wichtigen Wettbewerber, einschließlich der großen General Electric, die über viele Jahre als Maßstab gedient hatte, deklassiert.
Die Zerschlagung eines breit aufgestellten Konglomerates ist eine extreme Form der Gewährung von Autonomie – es gibt viele Zwischenlösungen
Zerschlagung einerseits und strenge Wahrung der hierarchischen Struktur eines breit aufgestellten Unternehmens andererseits sind lediglich zwei extreme Positionen, die zu kontroverser Diskussion einladen. Im Einzelfall ist eine Vielzahl von Zwischenstufen möglich, bei denen die Bereiche stärker oder auch weniger stark in die Konzernstrukturen eingebunden und damit dem direkten Einfluss der Finanzmärkte weniger oder aber stärker ausgesetzt sind.
So hat sich z.B. Siemens Ende der 90er-Jahre von den Bereichen "Halbleiter" und "Passive Bauelemente" in einem stufenweisen Prozess völlig getrennt. Beide Bereiche wurden als Publikumsgesellschaften der Kontrolle der Märkte überlassen, eine kapitalmäßige Verbindung mit Siemens gab es nach einer Übergangszeit nicht mehr. Beide entwickelten sich als selbständige Unternehmen nach anfänglichen Schwierigkeiten besser, als sie es vorher unter dem Dach des Großunternehmens getan hatten. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass den einzelnen Maßnahmen, hier z.B. der Selbständigkeit, kein bestimmter Anteil am Gesamterfolg zugeordnet werden kann. Damit ist eine Extrapolation zukünftiger Erfolge ähnlich gelagerter Maßnahmen auch nicht seriös möglich.
Bei Siemens wird die Möglichkeiten einer Einflussnahme durch den Mutterkonzern als Mehrheitseigner kombiniert mit der Steuerungsfunktion der externen Finanzmärkte.
Michael Mirow
Bei der Gewährung stärkerer Autonomie für die Bereiche Windkraft (Gamesa) – mit einem spanischen Partner – und Medizintechnik (Healthineers) hat Siemens kürzlich einen weniger radikalen Weg eingeschlagen. Beide Bereiche wurden an die Börse gebracht, die Mehrheit der Anteile verblieb jedoch im Portfolio von Siemens. So kann über die Rechte als Mehrheitsgesellschafter weiterhin signifikanter Einfluss auf die Strategie dieser Gesellschaften genommen werden. Gleichzeitig werden diese auch dem Druck der Finanzmärkte ausgesetzt. Dazu kommt ein weiterer Effekt: beide Unternehmen agieren auf Märkten, die sich in einer Phase der Konsolidierung befinden. Mit der vom Mutterkonzern unabhängigen eigenen Börsennotierung wurde somit auch eine „Währung“ für Unternehmenskäufe oder Zusammenschlüsse geschaffen. Die Möglichkeiten einer Einflussnahme durch den Mutterkonzern als Mehrheitseigner wird kombiniert mit der Steuerungsfunktion der externen Finanzmärkte.
Es ist noch zu früh, um über den Erfolg dieser Strategie zu urteilen. Erst die Zukunft wird zeigen, ob es für Siemens sinnvoll ist, diesen Weg in Richtung einer Holding konsequent weiter zu gehen, ohne seine Identität und die Stärke seiner Marke zu schwächen. Ein Indiz für die weitere Entwicklung in Richtung einer erweiterten Autonomie für die Geschäfte der Bereiche möge sein, dass vor kurzem eine Bündelung der zu 100% unter dem Dach des Konzerns verbliebenen Aktivitäten in drei operative Gesellschaften (Digital Industries, Smart Infrastructure und Energy) angekündigt wurde. Diese Gesellschaften bleiben vollständig im Eigentum der Siemens AG, sollen sich aber weitgehend autonom auf ihren jeweiligen Märkten bewegen – wohl auch unter bewusstem Verzicht auf mögliche Synergien. Damit verwirklicht Joe Kaeser als CEO des Unternehmens die von ihm unlängst zitierte Metapher, dass Siemens sich in Zukunft nicht mehr wie ein großer Tanker, sondern wie ein Flottenverband schneller und wendiger Boote auf seinen Märkten bewegen wird.
Ein anderes Beispiel sind die großen Fonds des Private-Equity-Sektors, die seit einigen Jahren die traditionellen Finanzholdings zunehmend verdrängen. Unter ihrem Dach versammeln sie meist Mehrheitsbeteiligungen von Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen. Sie werden letztlich von einer sehr überschaubaren Zahl von Portfoliomanagern vor allem auf der Basis von Finanzkennzahlen geführt, Strukturen hingegen, wie sie in den allmächtigen Zentralen traditioneller Großunternehmen existieren, sind in diesen Fonds nicht einmal annähernd zu finden. Nach einer Haltedauer von meist 4 – 8 Jahren wird die Unternehmensbeteiligung, möglichst mit Gewinn, wieder verkauft. Die von den erfolgreichen Fonds erzielten Renditen (meist im deutlichen zweistelligen Bereich auf Ebene des Fonds) zeigen, dass sich der Ansatz, große operative Autonomie auf der Grundlage einer zentral verabredeten Strategie zu gewähren, hier durchaus bewährt hat.
Mit den bisherigen Überlegungen haben wir zunächst die rein wirtschaftliche Seite von Strategie, Struktur und Führung angesprochen. Genauso wichtig wie die „richtige“ Strukturierung dieser drei Säulen ist jedoch die Einordnung des Unternehmens in das gesellschaftliche Umfeld und die gelebte Führungskultur. Das wird das Thema des nächsten Beitrags sein.
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