Im Zweifel für die Nachhaltigkeit

Auf den Spuren des Megatrends:
ENERGIE, KLIMAWANDEL & NACHHALTIGKEIT


Ein Gastbeitrag von Fried Grosse-Dunker, Dark-Horse-Mitbegründer, Querdenker & Design Thinker


Wir sollten aufhören, Nachhaltigkeitsfehler zu kritisieren, wir sollten vielmehr dazu ermutigen!
 

 

Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Flugemissionen wirklich kompensieren soll. Kann man darauf vertrauen, dass das Geld tatsächlich für die 'richtige' Sache eingesetzt wird? Wie viel Geld fließt womöglich in private Taschen – und nicht in die vorgesehenen Kompensationsprojekte?

So (oder so ähnlich) lautete vor kurzem die kritische Meinung eines Freundes zur Kompensation der CO2-Ausstöße von Flügen. Und zugegeben: Seine Zweifel sind wahrscheinlich sogar berechtigt. Aber dahinter steckt ein anderes, "psychologisches" Problem, nämlich die aus diesen Zweifeln resultierende Handlung: nichts zu tun!

Wegen seiner Zweifel kompensiert dieser Freund also seine Flüge vorerst einmal überhaupt nicht, obwohl Kompensationszahlungen für ihn prinzipiell eine gute Sache sind. Der Zweifel hält ihn zurück, lähmt ihn. Böse Zungen würden behaupten, es ist genau die Ausrede, die das Nichtstun legitimiert. Aber ist es wirklich so einfach? Ich glaube nicht.


Skepsis als Ausrede, nichts zu tun? Das wäre zu einfach!

Denn Kompensationszahlungen – also Spenden, die dem Flugpreis hinzugerechnet werden, um den Schaden, den Emissionen verursachen, "auszugleichen" – sind mühsam. Sie kosten uns Geld und damit auch Zeit, und was bekommen wir dafür? Ein Stück Papier in Form einer Quittung. Im besten Fall wird damit tatsächlich ein Beitrag zur Umweltverbesserung geleistet, doch da wir das nicht nachprüfen können, bleibt immer der Verdacht, dass diese Spende nur dazu dient, einerseits unseren Geldbeutel und andererseits unser Gewissen zu erleichtern, weil wir uns an einem Tag wie Klima-Samariter fühlen dürfen.

Ich beobachte diesen psychologischen Effekt allerdings nicht nur bei Einzelpersonen, sondern auch bei Unternehmen. EasyJet hat sich zum Beispiel vor kurzem dazu verpflichtet, die Kohlenstoffemissionen aller Flüge zu kompensieren. Die öffentliche Reaktion darauf war jedoch durchwegs negativ und voller Kritik. Warum? Weil EasyJet nicht ALLE schädlichen Emissionen des Fliegens kompensieren will, sondern lediglich den Ausstoß von CO2.

Natürlich ist diese Kritik wichtig und vor allem auch richtig. Aber der psychologische Effekt ist derselbe: Andere Fluggesellschaften werden kaum mehr derart mutige Schritte setzen, weil sie sich nicht einer ähnlichen Kritik wie EasyJet aussetzen möchten. Sie werden also NICHTS tun. Sie werden sich in der Diskussion rund um "Nachhaltigkeit" zurüchhalten, statt mutig voranzuschreiten und Easyjet zu übertrumpfen. Obwohl wir solche Schritte so dringend bräuchten.

Ich kann den Fluglinien auch keinen Vorwurf machen, als Verantwortlicher eines solchen Unternehmens würde ich vermutlich ähnlich reagieren. Das Risiko, bei Nachhaltigkeitsbestrebungen nur Kritik zu ernten, ist hoch. Sehr hoch. Denn für jede einzelne Sache, die man zu verbessern versucht, "finden sich" (finden andere) mindestens fünf weitere Aspekte, die noch nicht umgesetzt bzw. mitgedacht wurden.

Sollten wir also aufhören, die Vernachlässigung dieser fünf weiteren Aspekte zu kritisieren? Bitte nicht. Doch kann es gleichzeitig nicht unser Weg sein, dass wir es uns im warmen Nest des „Kritisierens“ gemütlich machen, wenn doch der Effekt jener ist, dass niemand mehr etwas im Kampf gegen den Klimawandel wagt.  Wie kommen wir also heraus aus diesem Dilemma?


Ein Aufruf zu iterativem Denken für die Nachhaltigkeit

Tatsache ist: Diese Art von Dilemmata ist nicht unbedingt neu. Aus dem Entrepreneur- und Designbereich kommend, nennen wir sie "wicked problems". Auf Wikipedia werden wicked problems wie folgt beschrieben:

A wicked problem is a problem that is difficult or impossible to solve because of incomplete, contradictory and changing requirements that are often difficult to recognize. It refers to an idea or problem that can not be fixed, where there is no single solution to the problem.

Die gute Nachricht dabei ist: Es gibt Methoden, die diesen komplexen, verschachtelten Problemen erfolgreich zu Leibe rücken. Wenn Sie mit Begriffen wie "Design Thinking", "Agilität" usw. vertraut sind, dann sind Sie vermutlich bereits auf diese Methoden gestoßen. Was ihnen als Prinzip allen gemein ist, um Probleme zu lösen: Nicht zu perfektionistisch nach Lösungen zu suchen, sondern sich stattdessen lieber den Weg zu einer Lösung nach und nach durch Iterationen zu 'bahnen'. Diese Strategie hat uns schon damals auf den Geburtstagspartys beim Topf-Klopfen weit gebracht. (Für alle, die dieses Spiel nicht kennen: Topf-Klopfen ist ein Kinderspiel, bei dem ein Mitspieler mit verbundenen Augen und einem Kochlöffel "ausgerüstet" einen umgedrehten Topf finden muss, der irgendwo im Raum aufgestellt ist und unter dem zumeist Süßigkeiten als Belohnung hinterlegt sind. Der Topf darf während der Suche nicht verschoben werden.)

Die "Strategie" dieses Kinderspiels könnte uns auch beim Thema Nachhaltigkeit helfen. Es gibt nämlich keine perfekten Lösungen. Wieso sollten wir also nach wie vor nach Perfektion streben, auf dem Weg "dorthin" das nicht Perfekte laufend kritisieren und uns damit alle zum Nichtstun "animieren"?

Nun, wird der Leser denken, schön und gut, aber warum gibt es keine perfekten Lösungen? Die Argumente dazu habe ich noch nicht gehört (bzw. gesehen). Recht hat der Leser, hier kommen sie:


GRUND 1:
Wir wissen nicht, was Nachhaltigkeit eigentlich ist!


Lassen Sie mich einen kleinen Umweg machen, um zu erklären, was ich damit meine: Nachhaltigkeit bedeutet im Grunde, dass wir nicht mehr Ressourcen verbrauchen (Schaden anrichten), als die Erde verkraften kann (Regenerationsrate). Die mathematische Gleichung wäre:

Ressourcenverbrauch ≤ Regenerationsrate

So weit, so gut? Dann kommen wir nun zum wissenschaftlichen Problem, das da lautet: Wir wissen nicht genau, wie hoch die Regenerationsrate ist. Warum nicht? Weil wir die zugrunde liegenden ökologischen Systeme und Wechselwirkungen nicht gut genug verstehen. Wir kennen den mathematisch korrekten Wert der Regeneration einfach nicht. Das Einzige, was wir tun können, ist schätzen, Modelle bauen, Simulationen durchspielen.

Ein Beispiel: Der vielzitierte Grenzwert "globale Erwärmung um maximal 2 Grad" ist nichts anderes als eine wissenschaftliche Schätzung, laut derer sich die Erde bei einem Überschreiten dieses Grenzwertes nicht mehr regenerieren kann. Es ist die beste Schätzung, die wir haben, aber es ist immer noch eine Schätzung.


GRUND 2:
Rebound-Effekte


Ein weiteres Problem ist das Phänomen, das als Bumerang- oder Rebound-Effekt bezeichnet wird und im Wesentlichen bewirkt, dass neue Lösungen zu einem neuen Benutzerverhalten führen können, das nicht vorhersehbar ist und die positive Wirkung einer neuen Lösung abschwächt oder aufhebt.

Ein kurzes Beispiel dazu: Carsharing ist eine neue Lösung, um den Autokauf zu reduzieren und damit Ressourcen zu sparen. Die allgemeine Verfügbarkeit von Carsharing könnte jedoch Menschen dazu bewegen, ihre Fahrräder stehen zu lassen (z.B. bei Regen) und stattdessen den Carsharing-Dienst zu nutzen. Die Nutzer würden damit aber von einer klimafreundlichen Lösung (Fahrrad) auf eine karbon-negative Lösung (Auto) umsteigen. Solche Rebound-Effekte – ausgelöst durch eine gute Absicht – können also sogar zu einer Verschlimmerung der Situation führen. Das Problem dabei: Ob ein Rebound-Effekt kommt und wie er aussieht, weiß man normalerweise erst, wenn er da ist.


GRUND 3:
Nachhaltigkeit ist sehr komplex


Vor einiger Zeit habe ich mich sehr intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeitsinnovationen und ihren möglichen Effekten beschäftigt. Mein Fazit: Als Innovator könnte/sollte/müsste man 27 Bereiche in Betracht ziehen, in welchen eine Innovation positive oder negative Auswirkungen haben kann (ein Modell namens Sustainability Innovation Cube, siehe Bild unten). Und in der Theorie müssten Sie jeden einzelnen davon analysieren, um zu beurteilen, ob Sie tatsächlich eine positive Nachhaltigkeitsbilanz Ihrer angestrebten Lösungen erhalten. Das ist sehr komplex. Und sehr risikoreich: Denn wenn einer von 27 Bereichen negative Auswirkungen hat, könnte das zu einem medialen Flop führen.

Natürlich auch hier nochmals ein Beispiel: Welche Option ist nachhaltiger, das regionale Lammfleisch oder das Bio-Lamm aus Neuseeland? Sie erahnen die Antwort, nicht selten hat das neuseeländische Lamm einen besseren ökologischen Fußabdruck, nur die Transportkosten als negativer Bereich führen zu einer veränderten Verbraucherwahrnehmung (weitere Beispiele sind zu finden unter dem Stichwort „Öko-Irrtümer”).


SUSTAINABILITY INNOVATION CUBE 

Quelle: Dark Horse Innovation
 

Die Lösung? Nicht nur kritisieren, sondern Iterationen fördern!

Gemessen an diesen Herausforderungen erscheinen die Chancen, gleich beim ersten Mal alles richtig zu machen, gleich Null (meine Einschätzung, ganz unwissenschaftlich). Beim ersten Innovations-Schritt also gleich alles richtig zu machen, in allen 27 Bereichen, ist ein hehrer Anspruch. Heißt das dann im Umkehrschluss, lieber mal nichts zu machen? Wie wäre es mit einer dritten Lösung? Mit wehenden Fahnen und mit offenem Visier mehr Nachhaltigkeits-“Fails” entstehen zu lassen. Nicht die perfekte Lösung anzustreben, sondern ein schnelles Iterieren. Fehler erkannt? Schnell den nächsten Schritt tun! Ich höre schon das Magengrummeln einiger Leser, die da richtigerweise einwerfen, dass das ja wohl medial ebenfalls zu einem Flop führen würde. Recht hat der Leser, nur können wir die Fehler ja gestalten. „Fail early and often“ ist ein altbekannter Leitspruch der oben zitierten Methoden, um genau dies zu tun: Fehler möglichst schnell, günstig und leise entstehen zu lassen, um sie schnell, günstig und leise beheben zu können.

In diesem Sinne sprechen wir dann auch nicht mehr von „Nachhaltigkeitsinnovationen“ (denn keiner weiß genau, was Nachhaltigkeit ist), sondern von „nachhaltigkeitsorientierten“ Innovationen (denn wir alle wissen, welche Richtung gemeint ist, und kennen zumindest den Status quo des Ressourcenverbrauchs).

Vielleicht beschäftigen wir uns noch einmal kurz mit dem Effekt des Nichtstuns durch Kritik, denn hier gibt es aus der akademischen Welt der Psychologie bemerkenswerte Erkenntnisse:

Vor mehr als 30 Jahren untersuchte die Stanford-Professorin Carol Dweck die Einstellung von Studierenden zum Thema "Scheitern" und inwiefern das Feedback von Lehrenden deren Leistung bei der Lösung vordefinierter Probleme beeinflusste. Diese Studie legte den Grundstein dafür, was wir als "Wachstumsmentalität" bezeichnen.

Die Studierenden wurden dazu in zwei Gruppen eingeteilt, die von ihren Lehrenden unterschiedliche Rückmeldungen über ihre Leistungen in einem Test erhielten: Eine Gruppe wurde für ihre INTELLIGENZ gelobt, die andere für ihre ANSTRENGUNGEN. Dann mussten sich die Studierenden einem zweiten Test unterziehen, in dem man sie absichtlich durchfallen ließ. Danach machten sie einen dritten Test. Und die Ergebnisse waren erstaunlich:

 

Quelle: www.mindsetworks.com/science/

Jene Gruppe, die für ihre Bemühungen gelobt worden war, steigerte ihre Leistung, während die Leistung der anderen Gruppe deutlich zurückging. Die Art und Weise, wie die Lehrenden ihr Feedback gestalteten, hatte also einen signifikanten Einfluss auf das Verhalten der Studierenden nach ihrem Scheitern.

Der zugrundeliegende psychologische Effekt bestand darin, dass jene Studierenden, die ein "Anstrengungslob" erhielten, glaubten, sie könnten ihre Leistung verbessern, wenn sie sich nur mehr anstrengen würden. Die Studierenden wurden also ermutigt, mehr zu tun. Die Vergleichsgruppe („Intelligenzlob“) dagegen glaubte, ihre Leistung sei von ihrer Intelligenz bestimmt und daher nicht veränderbar. Das unerwartete Scheitern im zweiten Test ließ diese Studierenden an ihrer Intelligenz zweifeln, auf die sie ohnehin keinen Einfluss hätten, so dass sie auch keinen Zweck darin sahen, sich mehr Mühe zu geben.

Disclaimer: Dies sind meine einfachen, verkürzten Worte, um die Studienergebnisse zusammenzufassen. Was hat das alles aber mit unserem Nachhaltigkeitsthema zu tun, werden Sie sich vielleicht fragen? Nun, ich glaube, dass unsere Reaktion auf individuelles oder betriebliches Scheitern in Bezug auf "Verbesserungen der Nachhaltigkeit" entweder zu ENTMUTIGUNG oder ERMUTIGUNG führen kann – in Abhängigkeit von der Art und Weise, wie wir Feedback geben:

Durch destruktive Kritik und „Bashing“ werden Unternehmen und Einzelpersonen zunehmend frustriert sein und kaum weitere Schritte unternehmen. Das Lob der Bemühungen und die Ermutigung zu zusätzlichen Schritten wird die Motivation dagegen eher erhöhen.

 

Ermutigen wir zu mehr Nachhaltigkeit und zu iterativem Handeln!

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns zu einem iterativen Denken ermutigen, damit wir nicht länger NICHTS tun und uns stattdessen nach und nach unseren Weg zu mehr Nachhaltigkeit "iterieren". Wir können unsere Klimakrise nur Schritt für Schritt lösen. Wir sollten jeden Schritt fördern, ob klein oder groß, und uns gleichzeitig daran erinnern, dass wir noch eine Menge Schritte vor uns haben. Jeder Schritt ist wichtig (wie jener von Easyjet), solange darauf ein nächster folgt. Und noch einer. Und noch einer.

Dieses Gleichgewicht von öffentlicher Ermutigung und Herausforderung, dieses zerbrechliche, konzertierte Gleichgewicht – das ist es, was uns antreibt, "dran" zu bleiben. Und nicht (destruktive) Kritik!

Übersetzt aus dem Englischen. Ursprünglich veröffentlicht hier:
link.medium.com/meyM0GnAY3

II


RAND- & ABSCHLUSS-BEMERKUNGEN

Dark Horse

Dark Horse bietet einen 2-tägigen Workshop zum Thema Circular Thinking an: Die Circular Economy bietet wertvolle Orientierungen und Lösungen dafür, wie wir Nachhaltigkeit und erfolgreiches Wirtschaften miteinander verbinden können. Neben einem Verständnis der Herausforderungen, denen wir uns heute gegenübersehen, braucht es dazu Wissen über Lösungsansätze und Methoden, wie wir Produkte, Dienstleistungen und Wertschöpfungsketten zirkulär gestalten können. Im Rahmen des Workshops werden Ihnen das Mindset und die Tools vermittelt, mit denen Sie schon heute die Lösungen von morgen entwickeln können, und erweitern dabei das „Human Centered Design“ zu einem „Eco Systems Centered Design“.

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in-manas | terra institute

Mit my in-manas können Sie Ihr Geschäftsmodell durch die Brille der Nachhaltigkeit betrachten. Dabei werden unter anderem Aspekte wie soziale und gesellschaftliche "Wirkung", ökonomische Stabilität und der Umgang mit Stakeholdern im Sinne von Fairness, Kooperation und Partizipation erörtert. Anschließend können Sie allein oder in Teams nachhaltige Strategien, Geschäftsmodelle und konkrete Projekte entwickeln. Dieses zukunftsträchtige Tool wurde in Kooperation mit dem Terra Institute entwickelt – einem Kompetenzzentrum für Innovation und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen und Gesellschaft mit internationaler Projekterfahrung in den Spezialgebieten Innovation & Sustainability, Circular Economy und neue Geschäftsmodelle, sinnorientierte Unternehmensausrichtung und transformatives Leadership.

 

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